Vordenker und Schrittmacher
Richard Siegmann kam in den letzten Tagen des 19. Jahrhunderts von Berlin nach Rostock. Über drei Jahrzehnte prägte er das wirtschaftliche, politische und kulturelle Leben der aufstrebenden Hansestadt.
26jährig übernahm der Sohn aus großbürgerlichem Haus die Leitung der Rostocker Straßenbahn AG. Von Anfang an betrieb er ihren energischen Ausbau. Mit der Erweiterung und Elektrifizierung des Streckennetzes legte er den Grundstein für ein zeitgemäßes Verkehrsnetz. Mit seinen bahnbrechenden Vorhaben verlieh er zugleich der gesamten Stadtentwicklung entscheidende Impulse. Damit trug er nicht zuletzt zu Rostocks Aufstieg zu einem führenden Industrie-Standort Norddeutschlands bei.
Bald ging das Wirken von Richard Siegmann weit über das kundenorientierte Verkehrsunternehmen hinaus. Mit Pioniergeist und Tatkraft gründete er den Rostocker -- und kurz darauf den Mecklenburgischen Fremdenverkehrs-Verein sowie die Arbeitsgemeinschaft der Fremdenverkehrs-Vereine der Ostseebäder. Mit innovativen Ideen warb er für den Tourismus und für seine Wahlheimat. Zum Beispiel mit dem so genannten Reutergeld.
Als geachtetes Mitglied der Rostocker Stadtvertretung und der Rostocker Kaufmannschaft sowie der Vorstände des Kommunalvereins, des Konzertvereins, des Tierschutzvereins, der Aero-Clubs und der Rostocker Singakademie engagierte er sich allumfassend für eine gedeihliche Entwicklung seiner Kommune. Auch in mehreren jüdischen Gremien bekleidete Richard Siegmann hohe Ämter.
Dass Richard Siegmann Jude war, spielte bis 1933 keine Rolle. Dann zwang man ihn jedoch, alle seine Ämter aufzugeben und die Straßenbahn AG zu verlassen. Richard Siegmann fühlte sich Zeit seines Lebens als Deutscher und konnte sich daher nicht zur rettenden Emigration entschließen. Er wurde enteignet und deportiert. 1943 verhungerten Richard Siegmann und seine Frau im Konzentrationslager Theresienstadt. Ihre jüngste Tochter Heidi wurde in Auschwitz ermordet. Zwei Kinder konnten nach Amerika fliehen.
Zum Plan der Nationalsozialisten gehörte auch, das Wirken des einst so anerkannten Bürgers aus dem Gedächtnis der Stadt zu tilgen. Im Stadtarchiv gelang ihnen das gründlich. Kein Bild und kaum eine Urkunde fanden sich dort. Die Rostocker Straßenbahn AG begann deshalb Anfang der 1990er Jahre mit Nachforschungen. Später startete auch die Richard-Siegmann-Stiftung einen Aufruf zur Mithilfe. Zahlreiche Privatpersonen sowie mehrere Vereine folgten dem und stellten Fotos, Dokumente und Erinnerungen zur Verfügung. Auch die Rostocker Historiker Frank Schröder und Dr. Jan-Peter Schulze beschäftigten sich in wissenschaftlichen Arbeiten mit dem Namensgeber der Stiftung. Sie förderten weitere Spuren in Berlin und Rostock zu Tage, sprachen mit Zeitzeugen und studierten zahlreiche Akten. Ihre Forschungsergebnisse lassen ahnen, wie groß das Leben von Richard Siegmann und wie grausam sein Ende war.
Bereits 1992 benannte die Stadt Rostock eine Straße nach Richard Siegmann. Zu der Zeremonie war auch seine 89-jährige Tochter Melanie Litten aus den USA angereist. Seit 2002 erinnert ein Stolperstein vor dem Rostocker Rathaus an den großen Sohn der Stadt und sein tragisches Schicksal.
Mehr in einer Publikation von Jan-Peter Schulze: Richard Siegmann ...aber wir waren Deutsche. Rostock, Redieck & Schade, 2011